die krankheit, die wunde, die verletzlichkeit


ein essay zu WUNDER oder ich denke an das holy hole von lucia salomé gränicher

in ihrem 2016 erschienenen manifest «sick women theory» prophezeit die künstler*in johanna hedva den lang ersehnten und längst überfälligen stillstand des kapitalismus. würden wir uns mehr umeinander kümmern, uns pflegen und uns gegenseitig sorge tragen, hätten wir keine zeit zur arbeit zu gehen. körper sind klar markierte gefässe mit haut und haaren. sie tragen narrative, konzepte und regeln, entworfen und getragen von der gesellschaft um sie herum. der kranke und nicht der norm entsprechende körper bildet den ausgangspunkt der sick women theory. es ist nämlich auch dieser, dem die Teilnahme an einer politischen öffentlichkeit, so wie sie heute definiert und praktiziert wird, verwehrt bleibt. johanna hedva untersucht deswegen, wie der ans bett gebundene körper trotzdem politisch wirksam werden kann.

die inszenierung «WUNDER und ich denke an das holy hole» fragt auf der grundlage von johanna hedvas überlegungen und enis macis text «WUNDER» nach der konstituierung einer sorgetragenden und achtsamen gemeinschaft. dafür werden erschöpfte und angeschlagene körper sowie krankhafte zustände, seien sie physisch oder psychisch, zum untersuchungsgegenstand. es wird also eine inkludierende gemeinschaft auf ihre schwächsten glieder hin befragt. die performenden schmeissen sich im verlauf der aufführung stellvertretend für die zuschauenden in den ring und untersuchen an sich selbst die fragilität ihres leibes. denn wenn krank als eine Abweichung von gesund verstanden wird, existiert krankheit lediglich als fehler. ein fehler ist das, was falsch ist, nicht sein soll, nicht sein darf. nicht in einer gesellschaft, in der die produktivität und ertrag den wert eines menschen definieren. unproduktive körper werden somit an die ränder der gesellschaft verdrängt und unsichtbar gemacht. in der peripherie werden sie schliesslich exkludiert, leben ein parallelleben abseits von der gesellschaftlich definierten politischen öffentlichkeit.

individuen sind immer wieder zurückgeworfen auf ihre physis und auf die erfahrungen, die sie damit machen. das normative wird so immer wieder zu einer verletzung für alles abweichende. und doch ist unabhängig von der körperlichen markierung die krankheit, die wunde, die verletzlichkeit eine der grössten gemeinsamkeiten der menschen. alle menschen tragen wunden, seien sie physisch oder psychisch. der körper definiert dabei nicht nur das gegenwärtig erlebbare, sondern wird auch zum ort des erinnerns. ein erinnern, an die die vor uns kamen, die vor uns gekämpft haben und deren geschichten und somit auch deren narben an uns weitergegeben werden. geschichten, die uns zu denen machen, die wir sind.

körper können nicht nur individuell voneinander betrachtet werden, denn sie stehen in direkter beziehung zueinander. sie beinhalten die möglichkeit verletzt zu werden und gleichzeitig auch selbst zu verletzen. die inszenierung «WUNDER und ich denke an das holy hole» beschäftigt sich genau mit dieser ambivalenz und fragt, ob darin nicht auch eine kraft liegen könnte? sich selbst und alle anderen als Verwundbare zu verstehen und somit diesen mit achtsamkeit und sorge zu begegnen, bedeutet einen möglichen und wünschenswerten umgang miteinander; nicht den gesunden, sondern den angeschlagenen körper normieren. somit, um auf johanna hedvas überlegungen zurückzukommen, würden auch der kranke und schwache Körper die möglichkeit erhalten, vom zentrum der gesellschaft aus eine politische schlagkraft zu erlangen.

die performenden begeben sich also auf eine suche nach einer gesellschaftlichen praxis der fürsorge, die nicht den produktiven, sondern den schützenswerten körper zentriert. sie suchen diese praxis an den rändern der gesellschaft, in den spitälern, den pflegeheimen und den rehabilitationszentren. sie suchen sie auch in fitnesszentren, in wohlfühloasen und den institutionen der nächstenliebe. sie suchen sie in der peripherie und erfragen dort, wo wir erkennbar werden als verwundete mit rissen und rupturen, wie wir menschen uns überhaupt noch begegnen können.